Und plötzlich stehe ich mitten in der Heide!
(Der Wümme-Radweg, Teil 2)
Am zweiten Tag auf dem Wümme-Radweg regnete es zunächst. Ich verschob meine Abfahrt um zwei Stunden und brach erst am späten Vormittag auf. Der wolkenverhangene Himmel und die letzten Regentropfen ließen die Wald- und Wiesenlandschaft als trist, langweilig und höhepunktslos erscheinen. Auch die Wümme hatte sich verflüchtigt – ich sollte den Fluss an diesem Tage nicht ein einziges Mal sehen!
Dann kam ich nach Schneverdingen. Die Stadt ist auf meiner Karte violett unterstrichen, was der Legende nach ein sehenswertes Ortsbild verspricht. Doch auch hier wurde ich enttäuscht: ein modernes Rathaus und eine unspektakuläre Kirche bestimmten meinen oberflächlichen Eindruck. Die einzige Besonderheit dieses Ortes war eine Kutschenstation – und diese Tatsache hätte mich eigentlich stutzig machen müssen! Hier stand ein Pferdewagen mit vier Reihen für jeweils fünf bis sechs Leute – eine ganz schön große Kutsche! Wofür? Die Pferde setzten sich hinter mir in Bewegung und als der Wagen gerade dabei war, mich laut und hufeklappernd einzuholen, drosselte das Gespann seine Geschwindigkeit und mein Vorsprung vergrößerte sich wieder. Die Asphaltstraße wurde durch einen festen Sandweg abgelöst und ich mühte mich durch ein größeres Waldstück. Und dann – huups – plötzlich und wie aus heiterem Himmel stehe ich mitten in der Lüneburger Heide! Links Heide, rechts Heide, geradeaus Heide, soweit das Auge reicht – nur hinter mir das gerade durchfahrene Waldstück.
Die Osterheide, so wie dieser Teil der Lüneburger Heide heißt, gehört zu den größten zusammenhängenden Heideflächen Europas. Bestimmt vom kargen Bewuchs der Birken, Wacholderbüsche und der Erika. Leider begann diese gerade erst zu Blühen. Ihre Blütezeit ist im August/September und dann werden die Heideflächen von einem beeindruckenden, lila strahlenden Teppich überzogen – ein eindrucksvolles Erlebnis! Aber auch ohne die Erikablüte hatte mich die wunderschöne und prächtige Heidelandschaft sofort aus meiner missmutigen Stimmung geholt! Ich bin wie in einer anderen Welt. Die leicht hüglige, karge und sandige Kulturlandschaft hat so gar nichts mehr zu tun mit den sich immer wieder wiederholenden grünen Wiesen der Umgebung. Beige-braun ist der bestimmende Farbton. Keine Autos mehr – nur noch vereinzelnde Wanderer und die schon besagte Kutsche hinter mir.
Zwölf Kilometer später bin ich in Wilsede. Hier endet die Nord-Route des Wümme-Radweges und hier beginnt die Süd-Route – oder umgekehrt. Wilsede ist ein Museumsdorf inmitten der Heide. Hier sind Kraftfahrzeuge (ohne Sondergenehmigung) verboten. Die Ortschaft besteht nur aus alten Bauernhöfen, Katen und Scheunen. Internet- und Telefonempfang gibt’s hier nicht – man scheint am Ende der technologisierten Welt zu sein – herrlich! Einige der historischen Hofstellen sind sogar noch bewohnt. 28 Menschen – so die Auskunft in der Wirtschaft – leben in dem Dorf. So ungefähr jedenfalls. Und Gasthäuser mit Übernachtungsmöglichkeiten gibt’s hier auch: ich bekomme ein kleines, spartanisch eingerichtetes Zimmer unter der Dachschräge in einem reetgedeckten Fachwerkhaus. Mit Dusche und Toilette auf dem Gang – einfach, aber sauber – und relativ günstig. Und zum Abendessen – das ist die Spezialität hier – gibt es Heidschnuckenrollbraten. Der Tag war dann doch noch richtig gelungen!
In Wilsede zweigt auch die Alternativroute über den Wilseder Berg ab. Der Gipfel des Berges, mit knapp 170 m immerhin die größte Erhebung in Nord-Westdeutschland, liegt nur rund 1,5 Kilometer von der Hauptroute entfernt. Trotz des beschwerlichen Aufstieges auf einem unbefestigten Weg ist der Abstecher zum Gipfel absolut lohnenswert, denn hier kann man bei guten Sichten einen atemberaubenden Ausblick über die weite Heidelandschaft genießen – bei klarer Luft sogar bis nach Hamburg!