Neujahrsmorgen – Eine erste Ausfahrt

Neujahrsmorgen – Eine erste Ausfahrt

‚Das neue Jahr hat so lange eine weiße Weste, bis man sie anzieht.‘       Hans Fallada

Neujahrsmorgen. Das Krachen der Böller ist verstummt. Alles im Haus schläft noch. Aber ich möchte das neue Jahr auf meine Weise begrüßen: mit einer kleinen Ausfahrt. Wie fast jeden Tag, aber heute ist die Stimmung anders. Das Fahrrad aus der Garage holen und los geht’s: Hallo 2014! Platz da, hier komme ich!! Aber sonst sehe ich niemanden. Der Ort wirkt wie ausgestorben, die Straßen leergefegt – halt, stopp, das kann man so nicht sagen, denn die Straßen liegen voller abgebrannter Silvesterknaller und ich habe Mühe, die Reste der lauten Nacht zu umkurven. Aber sonst – kaum eine Menschenseele, es ist noch viel, viel zu früh: 10:20 Uhr in Deutschland. Der Himmel ist tiefblau. Kein einziges Wölkchen ist zu sehen. Die Sonne steht tief und wirft lange Schatten. Dennoch ist der Asphalt nass. Mit vier Grad ist es nicht zu kalt – ein herrlicher Tag zum Radfahren, trotz der frischen Brise. Die Kette ist frisch eingeölt. Es sollte schließlich kein knirschender Jahresanfang werden. Auf der Hauptstraße gibt es tatsächlich ein bisschen Bewegung. Aber kein Vergleich zu sonst: An einem Mittwoch um diese Uhrzeit hat man normalerweise Probleme, die Straße zu queren. Wie viele Menschen jetzt wohl mit dickem Kopf verkatert in den Federn liegen? Ich lasse mir jedenfalls den frischen Wind um die Nase wehen – mir geht es gut! Letztes Jahr habe ich exakt 6800 Kilometer auf dem Sattel gesessen – absoluter Jahresrekord!! Am gestrigen Silvestertag bin ich noch ein paar Mal um den Pudding gefahren, bis ich die 6800 endlich voll hatte. Denn wie blöd klingt es denn, wenn man sagt: ‘Letztes Jahr bin ich 6798 Kilometer gefahren‘?!

Jetzt starte ich wieder bei null – mit weißer Weste, wie Hans Fallada sagt. Mein Ziel ist der Kanal. Ob wohl schon die ersten Schiffe unterwegs sind? Und so geht es raus aufs Land. Ruhe. Stille. Alles erscheint noch so friedlich, ohne jede Aggression. Aber die weiße Weste des neuen Jahres wird schon früh genug befleckt werden. Kaum ein Geräusch. Nur das ständige Schlagen einer Fahne an seinen Aluminiummast  und der leise rauschende Fahrtwind dringen an mein Ohr. Die ersten Vierbeiner werden Gassi geführt. Der Hund kennt keine Feiertage – Neujahr ist ihm völlig egal. Er will auch heute früh raus und Frauchen oder Herrchen muss mit! Nach der schrecklichen Nacht, in der man sich angstvoll hinter dem Sofa, hinter dem Wäschetrockner oder im Schrank verkrochen hat, ist man froh, endlich wieder nach draußen zu kommen! Prima, man hat überlebt und alles ist wieder normal – es kann weitergetobt werden!! Eine Joggerin kommt mir mit gequältem Gesichtsausdruck entgegen. Es wird im Verlauf meiner gesamten Runde die einzige bleiben.

Ich hänge meinen Gedanken nach: letztes Jahr war ein tolles Radfahrjahr! Ich bin die Spree und die Tauber abgefahren, bin der  Vechte bis in die Niederlande gefolgt, habe die Eifel und die Lüneburger Heide gerockt und mich mit dem Thomas durch die Elfringhauser Schweiz gequält. Ja, ich habe sehr viel gesehen! Und was kommt dieses Jahr? Die Elbe habe ich mir vorgenommen, denn die hatte im letzten Jahr wegen des Hochwassers nicht geklappt. Und sonst? Mir wird schon was einfallen – Ziele gibt es ja genug!

10 Kilometer gefahren – auf dem Kanal ist nichts los. Die Schiffer kauern alle noch in ihren Kojen. Kein einziges Boot ist zu sehen. Das grün-graue Wasser in der Fahrrinne wippt leicht vor sich hin und bildet dabei kleinste Wellen. Ich rolle über die stillen Feldwege und treffe doch tatsächlich noch einen anderen Radfahrer. Er grüßt freundlich – ich grüße zurück. Von Ferne klingt Geläut vom Kirchturm herüber. Ein Reiher steht stoisch am Rande des Baches und lauert auf seine Beute. Mich scheint er nicht zu beachten.

EIN KNALL!!! Offensichtlich ist die örtliche Jugend aufgewacht und vernichtet die letzten übrig gebliebenen Böller. Die Welt erwacht. Langsam kehrt das Leben in die Straßen zurück. Ich kehre von meiner morgendlichen Neujahrsrunde zurück. Und vereinzelnd kehren die Menschen den Müll der letzten Nacht zusammen. Den Rest werden die Kehrmaschinen der Straßenreinigung am nächsten Tag erledigen.

Dieses Jahr soll genauso gut wie das letzte werden. Die ersten 19 Kilometer sind geschafft!

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